Quelle ist die Fuldaer Zeitung
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Der bekannte Virologe, Professor Dr. Hendrik Streeck, rät in der Corona-Pandemie zu Pragmatismus. Er leitet die Heinsberg-Studie und untersucht dabei die Immunität der Menschen im ersten Corona-Hotspot Deutschlands. Im Interview mit unserer Zeitung erklärt der 43-Jährige, wie er die steigenden Infektionszahlen bewertet und wie die Chancen auf einen Impfstoff stehen.
- Im Interview mit der Fuldaer Zeitung plädiert Professor Dr. Hendrik Streeck dafür, sich in der Corona-Krise nicht nur an Infektionszahlen zu orientieren.
- Der Leiter der Heinsberg-Studie ist außerdem für die Gründung einer Spezialgruppe, einer Art „Corona-Feuerwehr“ die bei Hotspots zum Einsatz kommt.
- Das überraschendste für den Virologen im Umgang mit dem Virus: „Dass die Übertragung durch Aerosole in geschlossenen Räumen so eine bedeutende Rolle spielt“
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Name | Hendrik Streeck | ||
Alter | 43 | ||
Geburtsdatum | 7. August 1977 | ||
Geburtsort | Göttingen | ||
Beruf | Mediziner und Direktor des Institutes für Virologie an der Universität Bonn |
Wie ist Ihre Sichtweise? Mir
geht es um pragmatische Lösungsansätze. Ich möchte helfen, eine neue
Normalität zu erreichen, indem wir weg von einer Verbots- hin zu einer
Gebotskultur kommen. Aber
wir hören täglich von steigenden Infektionszahlen. Auch wenn die Zahl
der Krankenhaus- und Sterbefälle zurückgeht, ist die Politik alarmiert. Es gab verschiedene Phasen. Anfangs kannten wir das Virus nicht. Es war eine Gefahr da, und in meinen Augen hat die Bundesregierung
in dieser Situation gut und folgerichtig gehandelt. Aus einer Gefahr
ist aber nun ein Risiko geworden. Ein ernstzunehmendes Risiko, aber
eines, das statistisch gesehen für den Einzelnen recht gering ist. Wenn
wir nicht mehr nur auf die Infektionszahlen schauen, sondern auch
stationäre und intensivmedizinische Belegungen in unsere Betrachtung mit
einbeziehen, können wir das Risiko sehr viel besser einschätzen. | |
Ist der Kurs der Politik, sich auf die Infektionszahlen zu fokussieren, also falsch? Symptomlose
Infektionen haben im Allgemeinen für den Einzelnen keine negativen
Folgen. Worum es in dieser Pandemie vor allem geht, sind Menschen, die schwer erkrankt sind und entweder stationär oder sogar intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Ich plädiere für eine Ampel, die sich nicht nur an den Infektionszahlen, sondern auch an den mit Coronapatienten belegten stationären Betten orientiert. | |
Wie soll eine solche Ampel funktionieren? Wenn
wir neben den Infektionszahlen, die wir natürlich weiter beobachten
müssen, im stationären Bereich bestimmte Schwellenwerte erreichen,
springt die Ampel auf gelb oder rot. Das wiederum zieht bestimmte
Maßnahmen nach sich. Wir haben fast 30.000 Intensivbetten, bei 10.000 belegten Betten könnte die Ampel auf
Gelb, bei 20.000 auf Rot springen. Natürlich kann man diese
Schwellenwerte nicht so vereinfacht bestimmen, aber wir haben viele
Daten in den letzten acht Monaten gesammelt anhand derer wir gute
Richtlinien erstellen können. Für mich wäre diese Ampel im Moment im grünen Bereich – auch wenn die Infektionszahlen zur Zeit steigen. Was halten Sie von der Teststrategie der Bundes- und Landesregierungen? Wird zu viel getestet? Ein
anlassbezogenes Testen halte ich für sinnvoller. Wir sind inzwischen
bei einer Auslastung von 75 Prozent der Testkapazitäten und gefährden
damit die Möglichkeiten auch gegen andere Viren weiterhin testen zu
können – zum Beispiel gegen die Grippe. Für wie realistisch halten Sie es denn, dass so eine Ampel kommt. Welchen Draht haben Sie in die Politik? Ich sitze in verschiedenen internationalen und nationalen Expertengremien – unter anderem auch für das Bundesgesundheitsministerium. Darüber hinaus stelle ich fest, dass Politiker unterschiedlichster Couleur ein Interesse an einem Dialog mit mir haben. Welche
Argumentation ist denn zutreffender: Wir haben strenge Hygieneregeln,
deshalb haben wir wenige Fälle. Und um die Fälle niedrig zu halten,
müssen wir an den strengen Regeln festhalten. Oder: Es ging anfangs
darum, die Infektionszahlen niedrig zu halten, um die Krankenhäuser
nicht zu überlasten. Da der Überlastungsfall aber nicht eingetreten ist,
können wir die strengen Regeln lockern. Wir
haben auf der einen Seite ein Präventionsparadoxon durch Hygieneregeln,
andererseits ist die Überbelastung des Gesundheitssystems vor der
Hygieneregelung, die im Frühjahr befürchtet wurde, ausgeblieben. Sie
sagen, dass wir am Ende des Jahres vielleicht gar nicht mehr Todesfälle
haben als in anderen Jahren. Das müssen Sie erklären. Jeder Tod ist eine Tragödie. Zu unserer Wahrheit gehört aber, dass in Deutschland durchschnittlich täglich 2500 Menschen sterben. Dabei sterben im Frühjahr und im Herbst mehr, und im Sommer weniger Menschen. Zur Zeit ist nicht erkennbar, dass wir eine höhere Sterberate dieses Jahr haben werden. Ein
Indikator für die Gefährlichkeit des Virus ist die Sterberate. Das RKI
gibt diese mit 4,5 Prozent an, andere sprechen von 0,1 bis 0,2 Prozent.
Sie gehen von 0,37 Prozent aus. Können Sie uns diese Abweichungen
erklären? Das RKI bezieht
sich auf die gemeldeten Infektionsfälle und die gemeldeten Todesfälle.
Das schließt die Dunkelziffer aus. Wenn man die Dunkelziffer mit
berücksichtigt, wird die Zahl der Sterberate natürlich kleiner. ... Zur Person Hendrik Streeck (43) ist Professor für Virologie. Als Direktor des Institutes für Virologie und HIV-Forschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn ist er direkter Nachfolger von Professor Dr. Christian Drosten, der den Posten vorher innehatte und jetzt Institutsdirektor an der Charité in Berlin ist. Mit der Heinsberg-Studie erlangte Streeck große Bekanntheit. Heinsberg ist der Landkreis, in dem das Coronavirus in Deutschland erstmals vermehrt auftrat. Für die Studie musste Streeck auch Kritik einstecken. Als er die ersten Ergebnisse am 9. April 2020 bekanntgab, empfahl er der Politik die Rücknahme der Beschränkungen. Diese Empfehlung wurde von anderen Virologen, auch von Drosten, kritisiert. Streeck wurde in Göttingen geboren. Nach dem Zivildienst studierte er zunächst Musikwissenschaften und Betriebswirtschaftslehre, wechselte nach der Zwischenprüfung aber in die Humanmedizin und studierte an der Charité in Berlin. 2007 promovierte er an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Nach mehreren Stationen übernahm er bis 2019 die Leitung des Instituts für HIV-Forschung an der Universität Duisburg-Essen. Seit 2019 ist er außerdem Kuratoriumsvorsitzender der deutschen AIDS Stiftung. ... Eine
Verschärfung der Regeln wurde in Berlin nun doch nicht beschlossen, ist
aber diskutiert worden. Was halten Sie von dem Ergebnis? Eine Pandemie ist ein volatiler Prozess. Ich bin mir sicher, dass die Ministerpräsidenten auch nicht das letzte Mal mit Frau Merkel in diesem Jahr darüber beraten haben. Für Großveranstaltungen
hätte ich mir pragmatischere Lösungsansätze gewünscht. Wenn es das
ausschließliche Ziel ist, die Infektionszahlen niedrigst zu halten, dann
müssen Zusammenkünfte natürlich extrem beschränkt werden. Damit habe
ich aber die Sorge, dass Infektionszahlen in der warmen Jahreszeit zwar
unten gehalten, aber das Problem damit nur aufgeschoben wird. Wie meinen Sie das? Zunächst
möchte ich festhalten, dass das Virus nicht verschwinden wird. Wir
erzeugen zur Zeit einen künstlichen Staudamm, der am Ende vielleicht
doch mehr Schaden anrichten könnte. Es gibt Hochrechnungen, dass Mumbai und New York mit keinen hohen Infektionszahlen mehr zu rechnen haben, weil dort bereits Herdenimmunität eingetreten ist. Auch in Schweden sinken die Fallzahlen, während Spanien und Deutschland mit einem Anstieg zu kämpfen haben. Ich will jetzt nicht Schweden
als den besseren Weg verstanden wissen. Aber man muss realisieren, dass
wir den einzig wahren Weg nicht kennen. Es ist entscheidend, dass wir
ein lernendes System haben, in dem es erlaubt ist, Fehler zu machen.
Ohne „Trial and Error“ funktioniert Wissenschaft nicht. Häufig
ist von einer zweiten Welle die Rede. Sie halten es für möglich, dass
sich die Infektionszahlen im Herbst sogar verzehnfachen könnten. Klingt
nach einem apokalyptischen Szenario… Die Welle ist kein wissenschaftlicher Begriff. Die WHO
spricht immer noch von der ersten Welle. Die Wellenthematik ist für
Coronaviren müßig. Anders als Grippeviren, die oft verschwinden, tun das
die meisten Coronaviren nicht. Daher müssen wir lernen, SARS-CoV2 in
unser Leben zu integrieren. Welche Maßnahmen schlagen Sie vor, um mit dem Virus zu leben? Neben der Ampel wäre es sinnvoll, eine Spezialgruppe zu schaffen, die am Robert-Koch-Institut angesiedelt
ist, und immer dann zum Einsatz kommt, wenn es irgendwo einen lokalen
Hotspot gibt. Eine solche Gruppe, die mit jedem Mal Erfahrungen sammelt
und sich mit Pandemie-Management auskennt, könnte helfen, die nötigen
Maßnahmen schneller zu organisieren – wie eine Feuerwehr. Vor
allem für ältere Menschen ist eine Ansteckung gefährlich, für
Nicht-Risikopatienten eher nicht. Sollte man vor diesem Hintergrund
nicht eher die Risikogruppe besser schützen anstatt ein ganzes Land in
den Lockdown zu fahren? Eine
solche inverse Isolation muss man kritisch sehen, da es wie das
Wegsperren einer Generation aussieht. Schutz soll sein, aber die Frage,
ob es nicht die Entscheidung zum Beispiel eines 90-Jährigen selbst ist,
seine Enkelkinder zu sehen, muss erlaubt sein. Technisch sind wir so
weit, dass man in Seniorenheimen Schnelltests von Besuchern machen könnte. So würde man durch andere Ressourcenverteilung zu einer besseren Normalität kommen. Teil unserer neuen Normalität ist der Mund-Nasen-Schutz. Helfen diese Masken überhaupt? Ja.
Es gibt mittlerweile gute Daten, die zeigen, dass ein Mundschutz vor
einer Ansteckung schützen kann. Sie halten Tröpfchen ab – auch wenn ein
Virus theoretisch durch so einen Mundschutz passt. Es gibt zwar immer
noch die Wahrscheinlichkeit der Infektion. Aber es setzt die
Infektionsdosis herunter. Dadurch fördert man eine asymptomatische
Infektion, also eine Infektion, die keine Symptome hervorruft. Welche Rolle spielt die Infektionsdosis? Je
mehr Viren man abbekommt, desto schwerer sind die Symptome. Bei vielen
Erkrankungen spielen Grenzwerte eine Rolle. Für die meisten Viren
besteht ein starker Zusammenhang zwischen erster Infektionsdosis und den
Symptomen. Also alles, was wir im Moment machen – Mundschutz tragen,
Abstand halten – setzt die Infektionsdosis herunter. So sind wir auf
einem guten Weg. Gibt es Hinweise, dass sich das Virus verändert hat? Das
Virus verändert sich ständig. Es wurde gerade eine Mutation mit einem
schwächeren Verlauf in Zusammenhang gebracht. Ob dies wirklich so ist,
ist zu früh zu sagen. Würden Sie derzeit in ein Flugzeug steigen? Ich fliege innerhalb von Deutschland.
Meinen Urlaub habe ich aber an der Nordsee verbracht, weil ich in
dieser Zeit nicht so weit weg möchte, um greifbar zu sein. Ich kann es
mir momentan auch nicht erlauben, in Quarantäne zu müssen. Was hat Sie in den vergangenen Monaten bis heute im Umgang mit dem Virus am meisten überrascht? Unser Wissen ist immer ein Wissen auf Zeit. Für mich war es als Virologe am überraschendsten, dass die Übertragung durch Aerosole in geschlossenen Räumen so eine bedeutende Rolle spielt. Liebe Leser, dies war ein Teil des Interviews, welches unsere
Zeitung mit dem Virologen, Professor Dr. Hendrik Streeck, geführt hat.
Wenn Sie wissen möchten, was Herr Streeck über einen möglichen Impfstoff
verrät, werden Sie im kompletten Interview aus der Samstagsausgabe (29.
August) fündig. Falls Sie kein Abonnent sind, können Sie eine
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